Christophe Clottes


Si seulement nous avions le courage des oiseaux

    [Wenn wir nur den Mut der Vögel hätten]



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  Siffler sur les graines, 2021 (Ausschnitt). Von Distelfinken geschälter Nachtkerzenstamm, geerntete und gepfiffene Nachtkerzensamen auf einem Wasserlauf. Variable Abmessungen. © Christophe Clottes



  Arbeit im Gange, patella, 2020-2021


  Christophe Clottes, Buch domaine corps étendue, Mai 2021.
Herausgeber: NEKaTONEa + Bildnachweis.
Grafische Gestaltung : work in process


Text für das Buch domaine corps étendue, Ergebnis des Aufenthalts und der Ausstellung des Künstlers bei NEKaTONEa in der Domaine d'Abbadia (Hendaye) im Rahmen des Aufenthaltsprogramms, das mit dem CPIE Littoral basque getragen wird.


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Jedes Mal, wenn ich mich über diesen langen, mit Büschen und Luft bedeckten Flächen befinde (mit Büschen bedeckt wie Kämme für die Luft), die sehr weit entfernt in blauen Dämpfen enden, die in Wellenkämmen enden, in Schaum (als ob die Idee des Meeres mir aus der Ferne mit seiner durchscheinenden, zitternden Hand zuwinkt), nehme ich zu dieser Jahreszeit unsichtbar, höher, schwebend diese Büsche aus Vogelrufen wahr, diese mehr oder weniger weit entfernten Punkte des Klangrauschens.1

Christophe Clottes es un artista ambulante. Mantiene un vínculo con la naturaleza a través del paseo, la escucha y una cierta contemplación nutritiva. Caminar como vehículo de ideas, caminar para acoger pensamientos que nunca habría tenido sin la circunstancia de caminar, para dejarse atrapar por los sonidos y los vientos. Sólo podía caminar y volver a caminar, recordar, vislumbrar, olvidar, insistir, redescubrir, perderme. 2

Christophe Clottes ist ein wandernder Künstler. Er unterhält eine Verbindung zur Natur, die über die Zeit des Gehens, über das Zuhören und eine gewisse nährende Kontemplation verläuft. Das Gehen als Vehikel für Ideen, Gehen, um Gedanken aufzunehmen, die er ohne den Umstand des Gehens nie gehabt hätte, um sich von den Klängen und Winden ergreifen zu lassen. Ich konnte nur gehen und wieder gehen, mich erinnern, erahnen, vergessen, insistieren, wiederentdecken, mich verlieren.2
Sich bewegen, beobachten, reproduzieren, ohne zu sehen - in der Serie von Protokollzeichnungen Echos könnten die Gesten des Künstlers auf einen Automatismus eingegrenzt werden. In der Umkehrung des Schafts einer Nachtkerze, im archäologischen Verlauf der gastronomischen Wege von Pfauen, in der Masse der Feuersteinnuklei, in der unendlichen 8 eines in sich gedrehten Zauns... an vielen Stellen ihres Werks können diese Gefühle der Spontaneität, des "fast Nichts" auftauchen. Diese Lesart des Werks ist jedoch nicht nur äußerst reduktionistisch, sondern auch (nicht) ganz richtig. Ihr fehlt es an Subtilität, sie geht nicht in die unsichtbaren Bereiche. Und genau in diese Bereiche schreibt Christophe Clottes seine künstlerische Arbeit, seine Überlegungen und sein Handeln zunehmend ein. Er berührt den subtilen Bereich. Er geht mit Mikrogesten, Mikroaktionen und Mikroorganismen vor. Er kümmert sich. Er hat eine philosophische Aufmerksamkeit für die Zerbrechlichkeit der Beziehungen, des Gleichgewichts, der Fauna und Flora und der Wesen. Er bemüht sich, dieser Zartheit einen Platz zu geben. Wie ein Bedürfnis, Dinge zu schaffen, die die Zeit nicht überdauern, und ihre Bedeutung zu beanspruchen.
Meiner Meinung nach ist es das, was die Kraft seiner Aussagen und Werke verankert, und was manchmal das Verständnis erschwert. Ein bildender Künstler richtet seine Arbeit bewusst auf das aus, was man nicht sehen kann. Fast nicht. Es liegt an uns, zu arbeiten, zuzuhören, zu erkennen und uns zu bewegen. Alles ist schon immer da: die Zeit, die Vibrationen, der Körper, der Rhythmus, die Bewegung, auch die intensive Freiheit.

Die Werke von Christophe Clottes haben mit dem performierten Ereignis zu tun. Diese erhellende Evidenz ist mir erst kürzlich aufgefallen. Von den Zeichnungen, Drucken, Videos, Musikkompositionen und Architekturen bis hin zu den opportunen Salaten der Cuisine de campagne, dem Tanz der Installation Enveloppée und den erfreulichen Wesen von Condition erratique spielt sich die gesamte Arbeit im Feld der Aktion, der Performance ab. Die Forderung ist präsent, nicht in der provokativen oder "verstümmelnden" Form der Ursprünge des Mediums, sondern in einer relationalen Dynamik, in sozialen Interaktionen und in ihrer Positionierung in der Umwelt.
Der Körper des Künstlers unternimmt etwas, macht sich ans Werk, befreit sich und spielt mit Zwängen. Er performt im Off, wenn er minutiös Punkte auf das samtige Papier tuscht, schwere Kieselsteine aus dem Gave de Pau zerbricht, um Essenz und Pigment herauszuholen, Phasmen zähmt, Bienen in Szene setzt, Patelles auf dem Estrand3 verfolgt und geometrische Module baut.  In jüngster Zeit stellt sich der Körper zur Schau, wenn der Künstler den Gesang der Steine orchestriert, sich selbst in der Zeit des Eingesperrtseins filmt oder mit Vögeln spricht und in der baskischen Brise, die die Grenzen verwischt, ein Gespräch über die Umstände führt.

Die Grenze, die Grenze zum Nachbarland, die in Zeiten einer weltweiten Pandemie auf erschreckende Weise wieder auftaucht. Die Grenze, die von den Zäunen gezogen wird, die den Raum des Gartens, des geschützten Bereichs, in dem der Künstler als Gast arbeitet, unterteilen. Sie ist die Abgrenzung, über die sich der Flüchtige lustig macht.


Die Grenze erscheint auch unter seiner Hand, ein Kreidestrich auf dem Boden des Ateliers, andere mit Filzstift auf den Wänden und dem Papier. Die Linie, selbst wenn sie unvollendet ist, umreißt den Umriss einer Form. Sein Umfang lässt ein Innen und ein Außen entstehen, er zwingt zur Positionierung (Einverleibung und Einverleibung).

Das künstlerische Universum von Christophe Clottes verbindet sein Interesse an Biota und Flyshs im Baskenland4, seine Überlegungen zu ökologischen und sozialen Lebensräumen, Anarchie mit Kräften, die über uns hinausgehen, mit den Bergen, mit Phänomenen wie den Gezeiten oder der Reise von Findlingen und ihrem Anteil an Magie. Mit dem, was der Künstler über Stieglitze enthüllt, die sich ungehindert die Samen einer invasiven, in ihrem Gebiet nicht heimischen Pflanze aneignen, über die fotografierten Durchgangsvögel und die verschiedenen Tiere, mit denen er seit vielen Jahren arbeitet, gefällt es mir, ihn mir als aktives Mitglied der Vereinigung der Therolinguisten vorzustellen. Diese Gruppe von Sprachwissenschaftlern entdeckt, dass Ameisen mit ihren Pheromonen pamphletische Gedichte schreiben, dass sie politisch und libertär sind5. Die Therolinguisten decken auch die undurchdringlichen Texte von Kraken auf, deren flüchtige Schrift, die sie mit ihren Tintenstrahlen verfassen, im Wasser verstreut wird.6

In der Poetik der Werke von Christophe Clottes fließen das Lebendige und seine vielfältigen Entfaltungsmöglichkeiten, die verzerrte Zeitlichkeit, die Wissenschaft und die Mythologie der Felsen und der Landschaft sowie diejenigen, die sich "Menschen" nennen, zusammen. Der Künstler zeigt die Welt in Bewegung, integriert sich in sie ... und da er diese andere Welt nicht mit Sätzen beschreiben konnte, tat er es mit Märchen, damit auch der Mensch mit dem Licht tanzen konnte.7

— Émilie Flory
Frankreich, April 2021


Der Titel ist ein Vers von Dominique A aus seinem Lied Le courage des oiseaux aus dem Jahr 1991.

1 und 2. Philippe Jaccottet, Paysages avec figures absentes(Landschaften mit abwesenden Figuren), 1970
3. Der Estrand ist der Teil der Küste, der bei Flut bedeckt ist und bei Ebbe freigelegt wird, auch "Gezeitenschwankungsbereich" oder "Tidenhubbereich" genannt. Besonderes Biotop, das ein reiches und spezifisches Ökosystem beherbergt.
4. Flysh ist eine oftmals dicke Sedimentformation, die aus abwechselnden Schichten aus Sandstein und tonhaltigem Kalkstein besteht und sich in einem Ozeanbecken angesammelt hat, das sich nach dem Zusammenstoß zweier tektonischer Platten wieder schließt (sich aufrichtendes Gebirge).
5. Ursula K. Le Guin, The Author of the Acacia Seeds and Other Extracts from the Journal of the Association of Therolinguitics, 1974
6. Vinciane Despret, Autobiographie d'un poulpe et autres récits d'anticipation, 2021
7. Anna Lazowski & Patrick Fischmann, Contes des sages gardiens de la mer, 2019


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